Wenn KI ihre eigenen Regeln überwacht – Chance oder Risiko?
Der EU AI Act zwingt Unternehmen dazu, Künstliche Intelligenz unter klare Regeln zu stellen. Doch gleichzeitig übernehmen KI-Systeme immer häufiger selbst zentrale Governance-Aufgaben: Sie klassifizieren Daten, überwachen Zugriffe und dokumentieren Prozesse. Was Effizienz bringt, birgt zugleich ein strukturelles Risiko – wenn die Technologie beginnt, sich selbst zu regulieren.

Mit dem Inkrafttreten des EU AI Act ist ein verbindlicher Rechtsrahmen geschaffen worden, der Organisationen verpflichtet, den Einsatz von Künstlicher Intelligenz nach klaren Vorgaben auszurichten. Transparenz, Datenklassifikation, Zugriffskontrolle und Nachvollziehbarkeit gelten dabei nicht nur für die Modelle selbst, sondern auch für die Systeme und Prozesse, die ihren Betrieb ermöglichen. Data Governance bildet damit die unverzichtbare Grundlage jeder regelkonformen KI-Strategie.
Gleichzeitig verstärkt sich ein Trend, der in vielen Unternehmen sichtbar wird: KI übernimmt zunehmend zentrale Governance-Funktionen. Systeme klassifizieren sensible Inhalte, verwalten Berechtigungen und dokumentieren Datenflüsse automatisiert. Diese Entwicklung verspricht Effizienz, Skalierbarkeit und Geschwindigkeit. Doch entsteht dadurch ein strukturelles Spannungsfeld: Wenn Governance die Spielregeln definiert, unter denen KI agieren darf, wie kann dieselbe Technologie zugleich für die Durchsetzung dieser Regeln verantwortlich sein? Daraus ergibt sich die Frage, ob es sich um einen produktiven Verstärkungsmechanismus handelt oder um eine riskante Rückkopplung, in der das zu regulierende System Teil seiner eigenen Regulierung wird.
Technische Dimensionen des Feedback-Loops
Die Herausforderung liegt weniger in den Modellen selbst als in der Architektur der Governance. Betrachtet man die Steuerungsebenen, lassen sich drei Schichten unterscheiden. Der Policy Layer bildet die normative Grundlage: Richtlinien, Schwellenwerte und Risikodefinitionen. Der Enforcement Layer übersetzt diese Regeln in konkrete Kontrollmechanismen, etwa Zugriffskontrollen, Klassifikationsdienste oder Audit-Trails. Der AI Layer schließlich nutzt Modelle, um diese Mechanismen effizient umzusetzen, zum Beispiel durch maschinelles Lernen zur Erkennung sensibler Daten oder zur Anomalie-Detektion in Datenflüssen.
Das Risiko entsteht dort, wo der AI Layer beginnt, den Policy Layer zu beeinflussen oder eigenständig umzuschreiben. In diesem Fall verschwimmen die Grenzen zwischen Regelsetzung und Regelvollzug – die Governance läuft Gefahr, ihre Autorität an das System zu verlieren, das sie eigentlich regulieren soll.
Anforderungen an Trennung und Kontrolle
Um dieses Risiko zu vermeiden, müssen Governance-Architekturen eine klare Trennung von normativer und operativer Ebene gewährleisten. Richtlinien sollten in deklarativer Form definiert, versioniert und stets unabhängig von den eingesetzten Modellen validiert werden. Entscheidungen von KI-Systemen sind regelmäßig mit externen Prüfroutinen abzugleichen, um eine unkontrollierte Eigeninterpretation zu verhindern.
Ebenso entscheidend ist Observability. Protokolle, Traces und Metriken müssen so entworfen sein, dass sie unabhängig von den Systemen, die sie erzeugen, ausgewertet werden können. Revisionssicherheit entsteht nur dann, wenn Audit-Trails unveränderlich gespeichert sind. Auf organisatorischer Ebene gilt: An definierten Schwellenpunkten müssen Freigaben und Kontrollen durch Menschen erfolgen, um die letztgültige Verantwortung klar zu verankern.
Beispiele aus der Praxis
Besonders deutlich zeigt sich diese Problematik in regulierten Branchen. Im Gesundheitswesen müssen Systeme mit Patientendaten nicht nur performant und verfügbar sein, sondern auch vollständige Nachvollziehbarkeit gewährleisten. Jede Änderung, jeder Zugriff und jede Klassifikation muss überprüfbar bleiben – unabhängig davon, ob sie von einem Nutzer, einem Skript oder einem KI-Modell ausgelöst wurde.
Auch im Finanzsektor und in kritischen Infrastrukturen ist die klare Trennung unverzichtbar. AIOps-Plattformen können riesige Datenmengen analysieren, Anomalien erkennen und automatisiert Gegenmaßnahmen einleiten. Dennoch darf die Definitionsmacht darüber, was als Anomalie gilt und welche Reaktion erlaubt ist, nicht in den Systemen selbst liegen. Diese Schwellenwerte müssen extern dokumentiert und kontrolliert bleiben.
Ein ähnliches Muster zeigt sich in Datenbankumgebungen. Automatisierte Monitoring-Systeme sind in der Lage, Performance-Probleme frühzeitig zu erkennen und Lösungsvorschläge einzuleiten. Doch nur wenn die übergeordneten Richtlinien für Sicherheit, Skalierung und Compliance außerhalb dieser Systeme gepflegt und überprüft werden, bleibt die Governance stabil.
Konsequenzen im Rahmen des AI Act
Im Kontext des EU AI Act wird deutlich, dass die Aufsicht über KI-Systeme nicht vollständig an KI delegiert werden darf. Automatisierte Durchsetzungsmechanismen sind sinnvoll und häufig unverzichtbar, der normative Rahmen jedoch muss extern, explizit und unabhängig validiert bleiben. Nur wenn Richtlinien dokumentiert, versioniert und für Prüfungen verfügbar sind, lassen sich Nachvollziehbarkeit, regulatorische Konformität und Verantwortlichkeit sicherstellen.
Fazit
Künstliche Intelligenz kann Governance-Prozesse beschleunigen, Datenflüsse transparenter machen und Risiken frühzeitig sichtbar werden lassen. Doch die Autorität über Regeln, Grenzen und Verantwortlichkeiten muss immer außerhalb der Systeme verankert sein. Governance beginnt nicht mit Algorithmen, sondern mit klar definierten Zuständigkeiten. Nur durch diese Trennung bleibt gewährleistet, dass Automatisierung ein Werkzeug im Dienst der Governance ist – und nicht zu deren eigenständigem Ersatz wird.

Kevin Kline, Technical Evangelist bei SolarWinds.
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